H. Tschirren: Geschichten aus der Matte

Cover
Titel
Geschichten aus der Matte. Alte Mätteler erzählen


Autor(en)
Tschirren, Hans Markus
Erschienen
Bern 2018: Werd & Weber Verlag AG
Anzahl Seiten
176 S.
von
Philipp Stämpfli

Hans Markus Tschirren versteht sein Buch als ein Stück Kulturgeschichte eines Quartiers, in dem sich im Kampf gegen Armut, Krankheit und Hochwasser ein starkes Gemeinschaftsgefühl entwickelte. Er hat die Kindheitserinnerungen alter «Mätteler» gesammelt und herausgegeben. Der Band umfasst die Erzählungen von sechs Männern und einer Frau, die Zeugnis ablegen von einer Kindheit unter aus heutiger Sicht eher schwierigen Umständen. Gleich zu Beginn des Buches werden die Erzählerin und die Erzähler mit Namen, Lebensdaten, Foto und einer Kurzbiografie vorgestellt, was dem Band zusätzliche Glaubwürdigkeit verleiht. Der Übersicht zuliebe präsentiert Tschirren die Geschichten in den drei Teilen «Zuhause in der Matte», «In der Schule» und «Unterwegs». Mit «Unterwegs» ist gemeint, dass die Kinder ihre Freizeit meist nicht zu Hause verbrachten, sondern zusammen mit andern auf der Strasse. Damit ist auch schon gesagt, dass es sich um eine Kindheit vor der Zeit von Fernsehen und Computerspielen handelt – für die heutigen Kinder und Jugendlichen wohl kaum mehr vorstellbar. Genau dies dürfte das leicht lesbare Buch trotz der analogen Erscheinungsform auch für die jüngste Generation interessant machen. Man könnte sogar so weit gehen, zu sagen, dass ein Buch die einzig adäquate Form für diese Geschichten ist. Dazu passt das liebevoll zusammengestellte Bildprogramm. Den Texten auf der rechten Seite steht auf der linken immer eine Fotografie gegenüber. Die zeitgenössischen Abbildungen stammen sowohl aus öffentlich zugänglichen Archiven als auch aus Privatbesitz. Zu etlichen Erzählungen hat jedoch die Fotografin Alexandra Hertig extra passende Aufnahmen gemacht. So unterstützen die Bilder die anschaulichen Texte, was dem Band einen ganz speziellen Reiz verleiht. Längst nicht alle diese Geschichten sind typisch für die Matte – sie hätten sich irgendwo abspielen können. Typisch sind sie aber für ein Quartier, dessen Bevölkerung insgesamt nicht auf Rosen gebettet war und wo die Kinder nicht nach heutigen Massstäben (früh-)gefördert wurden. So erfährt man beispielsweise auf Seite 79, dass aus einer Klasse von 32 Schülerinnen und Schülern nur drei Knaben die Sekundarschule besuchten (Angaben zu den Mädchen fehlen). Etliche der Geschichten drehen sich darum, wie die Kinder in ihrer Freizeit etwas Geld zu verdienen versuchten. Auch die Sparsamkeit zu Hause kommt direkt oder indirekt immer wieder zur Sprache. Ins gleiche Kapitel gehören Erinnerungen an zu enge Wohnverhältnisse oder an selbst gebasteltes Spielzeug. In verschiedenen Variationen kommen auch die damaligen Erziehungsmethoden vor. Es werden Körperstrafen erwähnt, die heute verpönt sind, damals jedoch nicht infrage gestellt wurden. Die Betroffenen selbst empfinden diese offensichtlich auch heute noch als nicht allzu belastend, werden sie doch immer wieder verständnisvoll und gelegentlich mit einem Augenzwinkern erwähnt. Dieser Zug ins Humorvolle zieht sich durch das ganze Buch hindurch. In verschiedenen Fällen ist es schwer herauszuspüren, ob die Erzählenden schon in ihrer Kindheit über verschiedene Episoden lachen konnten oder ob das Lachen erst im Rückblick kam. Typisch für diese Erzählweise ist die Geschichte, wie für den im Singen nicht besonders begabten Schüler Marcel Sommer die Note in diesem Fach zustande kam: «Peter Bucher wohnte nicht weit von uns und darum wurde er einmal auserwählt, mit mir im Duett zu singen. Bei ihm zu Hause übten wir. Aber eben: Zwei leere Flaschen ergeben keine volle. Unser Duo war für die Klasse ein toller Erfolg, aber beim Lehrer kamen wir nicht gut an. Es gab wieder einmal Ohrfeigen und eine Null im Zeugnis.» Ein grosser Teil der in den 1940erund 1950er-Jahren Aufgewachsenen dürfte in diesen Geschichten viel Vertrautes wiederfinden. Für alle andern bietet das Buch einen spannenden, weit über den Einzelfall hinausweisenden Einblick in eine noch gar nicht so lange vergangene Welt.

Zitierweise:
Philipp Stämpfli: Rezension zu: Tschirren, Hans Markus: Geschichten aus der Matte. Alte Mätteler erzählen. Thun/Gwatt: Werd & Weber 2018. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 2, 2019, S. 73-74